für mich das naheste Werk aller Literatur – Die Uraufführung der Achten Symphonie von Gustav Mahler im Spiegel der Beziehung von Alma Mahler und Walter Gropius

Am 12. September 1910 fand in München die Uraufführung der monumentalen von statt. Für bedeutete diese mit immensem Aufwand realisierte kunstreligiöse Darbietung, an der mehr als 1.000 Akteure mitwirkten, seinen größten Publikumserfolg. Sie bescherte ihm ein höheres Renommée bei früheren Kritikern (, S. 135–156). Der geistige Gehalt umfasste Vertonungen der Schlussszene von Faust II sowie des Pfingsthymnus Veni creator spiritus in Form eines Opernoratoriums bzw. einer Symphoniekantate. Mehr als 3.200 Besucher:innen in der Münchener Festhalle, darunter zahlreiche bekannte Komponisten, Schriftsteller und Theaterregisseure sowie Persönlichkeiten des königlichen Adels, feierten den Komponisten und sein Werk mit zwanzigminütigen Ovationen. Der vorliegende Briefwechsel liefert zu diesem historischen Ereignis neue biographische Erkenntnisse: So hatte bereits in einem ihrer ersten Briefe offenbart, dass ihr die das naheste Werk aller Literatur sei (AM3 vom 3. Juni 1910). Das Werk knüpfte ein so starkes Band zwischen ihr und , dass es in München nicht gelingen konnte, aus dieser Verbundenheit zu lösen und ihr im zeitlichen Umfeld der Uraufführung selbst nahe zu kommen.

Während ihren Brief AM11 vom 2. oder 3. August 1910 auf Papier des Münchener Regina Palast-Hotels schrieb, das wahrscheinlich von seinem dortigen Aufenthalt vom „16. bis zum 26. Juni“ (, S. 350) anlässlich der letzten Proben zur vor der Sommerpause mitgebracht hatte, war die Affäre mit gerade offenbart worden (s. Der fälschlich adressierte Brief an Gustav Mahler). Die Planungen für ein geheimes Treffen von und rund um die Uraufführung mussten also mit großer Vorsicht ablaufen. Anfangs noch zu einer baldigen Zusammenkunft mit entschlossen (AM6 vom 21. Juli 1910, AM18 vom 13. August 1910, AM23 vom wahrscheinlich 22. August 1910), mussten und ihre sie bezüglich unterstützende Mutter, , am 3. September erkennen, dass ein trauliches Sichsehen in München ausgeschlossen erschien (AM28) – wurde auf ein Treffen in Wien nach der Uraufführung vertröstet (AM31 vom 5. September). Gleichwohl glaubte noch an ein Miteinander in München (WG69 vom 8. September).

Eine laut für den 25. August geplante Fahrt nach München (AM25 vom 24. August 1910) hat nicht angetreten und fuhr stattdessen nach Leiden in die Niederlande (AM26 vom 27. August 1910), um mit dem Psychoanalytiker über seine Ehekrise zu sprechen (, S. 451f.). Erst am 3. September reiste schließlich mit dem Mittagszug (12.57 Uhr) zu den Endproben für die Uraufführung seiner nach München (AM27). trat ihre Reise am 6. September an (AM32). Sie kam am selben Tag abends in München an und wurde am Bahnhof von abgeholt ( Nr. 455, S. 421). Dessen Assistenten, Freunde und Familie sowie die nach und nach hinzukommenden Kollegen und Honoratioren nahmen neben den Besuchen von Endproben sehr in Anspruch. hatte laut Probenplan (wiedergegeben in , S. 5) „nur zwei halbe Tage“ frei (, S. 51, Anm. 164), wobei anzunehmen ist, dass bei fast allen Proben anwesend war. Ihr blieb demnach kaum Zeit, sich mit noch vor der Uraufführung zu treffen. Dessen Telegrammentwurf WG66 vom 6. September legt ohnehin seine Ankunft erst am 12. September nahe. stellte sich ein Wiedersehen mit während der Uraufführung aus der Ferne vor (AM32), konnte die Frage von nach ihrem Sitzplatz (wo Du [sitzen]?, WG70 vom 8. September 1910) jedoch zunächst nicht sicher beantworten (AM33 vom 9.–11. September 1910). Kurz vor der Uraufführung gelang es schließlich noch, ihm ihren Platz mitzuteilen: Log[e] 9. links (AM34). Im Konvolut finden sich zwei abgerissene Karten des Münchener Konzertereignisses von , sowohl für die Uraufführung am 12. September (: , Inv.-Nr. , ) als auch für die zweite Aufführung am nächsten Tag (: , Inv.-Nr. , ). Sein Sitzplatz, an beiden Tagen jeweils „1. Ring rechts“, ermöglichte direkten Blickkontakt mit während des Konzerts. Zu einer persönlichen Begegnung kam es nicht. Das Risiko war zu groß, von selbst oder seiner erkannt zu werden – vor ihr warnte am 12. September vehement (AM34). gab dennoch die Hoffnung nicht auf und versuchte bei ein kurzes Treffen oder zumindest das kurze Erhaschen eines Blicks seiner Geliebten am Fenster noch vor der zweiten Aufführung zu arrangieren (WG72 vom 13. September 1910). Vergleichsweise näher kam jedoch erst in dem Moment, als diese nach der Uraufführung am 12. September oder nach der zweiten Aufführung tags darauf eben mit G.[ustav] ins Auto stieg: so blühend und wunderschön (WG71) – sie trug einen Kopfschmuck von [Josef] Hoffmann. Wie umworben in München war, sieht man auch daran, dass ihr der Physiker am darauffolgenden Tag noch 3 Perlen schenkte (AM37 vom 23. September 1910).

Während mit aller Kraft und Eindringlichkeit versuchte, seiner Liebsten in den Münchener Tagen nahe zu sein, befand sich in einem wesentlich anderen Zustand: Die Uraufführung ihres war ein durchschlagender Erfolg, der den Komponisten in neue Höhen katapultierte und seine Reputation eines musikalischen Genies festigte. Welche emotionalen Auswirkungen dieser Erfolg auf hatte und wie sich dies auf ihre Gefühle für niederschlug, ist in Briefen nicht festgehalten. WG73 vom 16. September offenbart jedoch, dass seiner Angebeteten in München wie ein Schatten gefolgt war und ihr verzweifelt Briefe geschickt hatte, die ihn nachträglich derart beschämten, dass er die Entwürfe dazu im Laufe des Herbstes vernichten sollte (In München schrieb ich Dir so verworren lakonisch, WG116 vom 9. oder 10. Januar 1911). Tief beeindruckt von der Uraufführung las die kurz zuvor erschienene Mahler-Biografie von () und brachte seine Hochachtung für den Komponisten zum Ausdruck: G[ustav]’s Musik hat mir so ans Gemüt gegriffen, daß ich mit dem Gefühl aus dem Konzert ging: […] vor diesem Menschen müssen wir uns beugen (WG73 vom 16. September 1910). Am 17. oder 18. September 1910 notierte er mehrere Zitate aus der , basierend auf Auszügen aus Goethes Faust II (WG74). Ein Jahr später, nachdem ihm in Toblach auf ihrem Flügel aus der ihres dann bereits verstorbenen vorspielte, sollte er wiederum sehnsuchtsvoll einen Vers aus diesem Werk wiedergeben: Kein Engel trennte geeinte Zwienatur der innigen beiden (WG179, kurz nach oder am 7. oder 8. August 1911; siehe auch den Themenkommentar: Alma Mahlers Musizieren in Toblach 1911). Zuvor, am 26. Dezember 1910, während des USA-Aufenthalts von und hatte jene die mit ihrer Erwähnung des chorus mysticus wieder in Erinnerung gerufen (AM54). Kurz darauf wurden schließlich weitere Aufführungen dieser Symphonie in Mannheim oder Paris geplant (AMo7 vom 12. Februar 1911). Zur Pariser Aufführung kam es jedoch nicht.

Erst nach Tod fand am 14. März 1912 zunächst die Wiener Erstaufführung unter statt, an dessen Proben teilnahm (AM133 vom 9. und 10. März 1912). Weitere Aufführungen folgten: in Frankfurt am Main am 3. April 1912 unter der Leitung von berichtete am 10. April 1912 in aller Kürze (AM135) – und in Mannheim am 10. Mai 1912 unter . Jedenfalls traf dort nach langer Zeit wieder (AM138 vom 11. Mai 1912) – die Beziehung zwischen den beiden war zu dieser Zeit allerdings abgekühlt. So setzte ihre Ankündigung, am 17–18 Mai in Berlin zu sein (AM133), um dort der Aufführung der am 17. Mai 1912 unter beizuwohnen, nicht mehr in die Tat um. Das ihr naheste Werk aller Literatur – und das fesselt mich an ihn (AM3) blieb letztlich ein besonderes Andenken an – nicht zuletzt, da er es ihr auch öffentlich gewidmet hatte (vgl. , S. 159–172).

A

Abb.: Die Eintrittskarte von Walter Gropius zur Uraufführung der Achten Symphonie von Gustav Mahler am 12. September 1910.

B

Abb.: Die Eintrittskarte von Walter Gropius zur zweiten Aufführung der Achten Symphonie von Gustav Mahler am 13. September 1910.